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Karlheinz Böhm und BErhanu Negussie

Berhanu erzählt

Ein Leben im Dienst für die Menschen

Im Dezember 1981 reiste Karlheinz Böhm nach Äthiopien, um den HalbnomadInnen in Babile, die dort in einem Hungerlager ihr Dasein fristeten, zu helfen. Es sollte das erste Projekt seiner neu gegründeten Organisation Menschen für Menschen werden. An seiner Seite stand damals ein junger Mann, der als Übersetzer die Brücke zu den Menschen schlagen sollte. Dieser junge Mann war Berhanu Negussie. Aus einem Auftrag wurde eine lebenslange Freundschaft und Berhanu blieb in den nächsten Jahrzehnten an Karlheinz Böhms Seite: als Freund und Kollege, aber auch als Berater und Kritiker. 

Nach 39 Jahren bei Menschen für Menschen verabschiedet sich Berhanu  in den Ruhestand und wir wollen noch so einiges von ihm wissen. Bei einem langen Telefonat glühen im Oktober 2020 die Leitungen zwischen Addis Abeba und Wien und Berhanu erzählt über seinen Werdegang und die aktuelle Lage vor Ort:
Zitat Berhanu

Hallo Berhanu, es ist schön dich zu hören. Vor allem, weil wir uns vor deinem Abschied wohl leider nicht mehr persönlich sehen werden. Wie geht es dir mit deinem nahenden Ruhestand?

Berhanu Negussie: Natürlich bin ich etwas sentimental, wenn ich an meinen Abschied von Menschen für Menschen
denke. Aber ich bleibe der Organisation noch etwas erhalten und werde im kommenden Jahr beratend zur Seite
stehen. Mit dem Herzen werde ich natürlich immer bei Menschen für Menschen sein. 

Hättest du dir anfangs gedacht, dass du fast vierzig Jahre bei der Organisation bleiben und sie am Ende leiten wirst?

Als ich Karl das erste Mal begleitete, arbeitete ich noch für die Deutsche Leprahilfe. Mein Entschluss, mich ihm anzuschließen und für Menschen zu Menschen zu arbeiten, stieß bei vielen in meinem Umfeld auf Unverständnis. Sie hielten das Ganze für eine kurzweilige Spinnerei eines Ferenji (in Äthiopien geläufiger Ausdruck für Nicht-ÄthiopierInnen).
Aber ich war überzeugt von Karls Anliegen und von seinem für die damalige Zeit sehr progressiven Ansatz.
Berhanu NEgussie in seinem Büro.
2002 wurde Berhanu Negussie  zum Landesrepräsentanten von Menschen für Menschen in Äthiopien.

Was hat dich am meisten beeindruckt?

Als Karl 1981 in das Hungerlager in Babile ging, waren dort all diese Menschen, die ihre Heimat, ihre Lebensgrundlage und ihre Liebsten verloren hatten. Und plötzlich stand er da, dieser Fremde, der ihnen helfen wollte. Aber nicht so, wie es die anderen taten. Karl sagte ihnen: „Ich will euch nicht Essen für einen Tag geben und dann wieder verschwinden. Ich will euch helfen, eigenständig für eure Kinder sorgen zu können.“ Karl scheute nicht davor zurück,
das anscheinend Unmögliche zu versuchen: HalbnomadInnen sesshaft zu machen. Aber er machte von Anfang an
klar, dass es keine Almosen sein werden: „Ich werde euch helfen, aber ihr werdet mitarbeiten müssen.“

Die Entscheidung überließ er den Menschen selbst. Als er eine Gruppe Männer und Frauen bat, ihn in das Erer Tal
zu begleiten, wo die Siedlung entstehen sollte, beschwerten sich zunächst die Männer: Wieso sollten die Frauen mitkommen? Es reicht doch, wenn wir Männer uns das ansehen. Aber Karl sagte ihnen: „Nein, die Frauen müssen mitkommen. Sie sind es, die das Wasser holen und das Feuerholz sammeln müssen. Sie sollten sehen, was sie dort erwartet.“ Das Einbeziehen der Menschen und ihrer tagtäglichen Herausforderungen hat mich damals sehr beeindruckt.

Wie hat sich dieser Ansatz von da aus weiterentwickelt?

Die Ansiedelung der HalbnomadInnen im Erer-Tal war das erste erfolgreiche Projekt und Karl erkannte, dass neben
der Landwirtschaft – der Lebensgrundlage der Menschen – viele weitere Aspekte wichtig sind, um langfristig zu helfen.
Es brauchte auch Zugang zu sauberem Wasser, zu medizinischer Versorgung, Bildungsmöglichkeiten und den Schutz der natürlichen Ressourcen. Uns wurde auch bald klar, dass die nachhaltige Umsetzung aller Maßnahmen eine langfristige Verpflichtung mit sich bringt, weshalb die Projekte auch heute noch auf viele Jahre ausgelegt sind.
Berhanu Negussie und Karlheinz Böhm sitzen in einer Menschengruppe.
Berhanu Negussie und Karlheinz Böhm 1985 in Illubabor: Das Gespräch mit der Bevölkerung stand von Beginn an im Mittelpunkt der Arbeit.

Das Hungerlager von Babile ist längst Geschichte und in den letzten vier Jahrzehnten hat sich in Äthiopien auch sonst viel verändert. Welchen Einfluss hatte das auf die Arbeit von Menschen für Menschen?

Der Ansatz von Menschen für Menschen ist nicht als Dogma zu verstehen, sondern entwickelt sich genauso wie die
Gesellschaft in Äthiopien. Viele der Probleme, die vor 35, 40 Jahren noch brennend waren, existieren nicht mehr.
Dafür sind neue Herausforderungen aufgetaucht. Natürlich ist es auch heute noch wichtig, dass die Familien genug
ernten können, um ihre Kinder zu ernähren. Aber es ist zum Beispiel wichtiger geworden, Wertschöpfungsketten in den
entlegenen Regionen aufzubauen. Für die Zukunft des Landes sind außerdem Programme für arbeitslose junge Menschen von besonderer Bedeutung.

Aktuell befindet sich Äthiopien in einer sehr schwierigen Situation: Immer wieder flammen Proteste auf, Heuschreckenschwärme bedrohen die Ernten und das Land ist natürlich auch von der Corona-Pandemie betroffen. Wie ist die derzeitige Lage im Land?

Die Pandemie schränkt uns natürlich genauso ein wie die Menschen in Europa. Die Regierung hat nun aber beschlossen,
dass die Schule wie geplant beginnen sollte, wobei auf Vorsichtsmaßnahmen Acht gelegt wird: Weniger Kinder in den Klassen, Hygienemaßnahmen wie Händewaschen sollten befolgt werden – beides allerdings Vorhaben, die in vielen Regionen schlicht nicht umzusetzen sind. Was die Proteste betrifft, kommt es zwar da und dort noch zu Demonstrationen, aber im Allgemeinen ist es derzeit wieder ruhig.

Äthiopien hat eine bewegte Geschichte, vor allem in den vergangenen Jahrzehnten kam es immer wieder zu Umbrüchen. Was war der schwierigste Moment für Menschen für Menschen?

Ganz klar die Zeit nach dem Fall des Derg-Regimes. Damals kam es zu einem Machtvakuum im Land, was zu gewaltsamen
Auseinandersetzungen zersplitterter Gruppen führte. Auch unsere Infrastruktur und sogar Mitarbeiter wurden angegriffen. Das zwang uns dazu, die Arbeit in Erer und Merhabete zu unterbrechen. Dass wir die Arbeit aber wieder aufnehmen würden, stand nie in Frage – denn am Ende des Tages geht es uns immer nur um die Menschen.
Berhanu Negussie und Karlheinz Böhm.
Was für Berhanu Negussie mit einem Auftrag als Übersetzer begann, führte zu einer lebenslangen Freundschaft mit Karlheinz Böhm und 39 Jahren als Mensch für Menschen.

Die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen, kann also auch als Prinzip
der Arbeit betrachtet werden?

Alles, was wir tun, tun wir für die Menschen und mit ihnen. Die Arbeit beruht auf dem Graswurzel-Prinzip, das heißt die
Gemeinschaft ist von Beginn an miteinbezogen. Niemand von uns geht in eine Projektregion und sagt den Menschen,
was sie zu tun haben. Wir fragen die Leute: Was sind eure Probleme? Wie können wir euch dabei unterstützen, diese Probleme selbstständig zu beseitigen? Die Herausforderungen sind in den ländlichen Regionen zwar ähnlich, aber
jede Gemeinschaft setzt selbst die Prioritäten. Dabei geht es auch um das Gefühl der Eigentümerschaft: Wir bieten
die Unterstützung an, die Verantwortung liegt am Ende bei den Menschen selbst.

Du hast mir mal gesagt, die EntwicklungsberaterInnen seien das Rückgrat der Organisation. Das fand ich sehr schön. Welche Bedeutung haben sie für den Erfolg der Arbeit?

Die EntwicklungsberaterInnen und SozialarbeiterInnen von Menschen für Menschen leben in den Dörfern. Sie schlafen
in den gleichen Tukuls, trinken das gleiche Wasser, essen das gleiche Getreide wie die Menschen in den Dörfern. Das
schafft Vertrauen und Verständnis. Unsere MitarbeiterInnen sind ein Teil der Gemeinschaft. Sie wissen, welche Probleme
es im Dorf gibt und können so helfen, Veränderungen anzustoßen. Das kann ein Mitarbeiter, der irgendwo weit
weg in einem Büro in der Stadt sitzt, niemals vollbringen. Über Armut zu lesen ist etwas anderes, als sie zu erleben.
Ich habe selbst als Sozialarbeiter für die Organisation gearbeitet und in dieser Funktion auch Karl über die Kultur
und Traditionen der Menschen beraten.

Welchen Einfluss hatte Karlheinz Böhm auf dich persönlich?

Karl hatte sehr großen Einfluss auf mich und mein Leben. Er war mein Mentor, Lehrer, Bruder und Vater zu gleichen
Teilen. Ohne ihn wäre ich ein völlig anderer Mensch. Karl hat mich dazu gebracht, Dinge von verschiedenen Sichtweisen
aus zu betrachten und immer ein offenes Ohr für neue Ideen zu haben. Das ist auch wichtig für die Zukunft der Organisation: Dass innovative Ideen umgesetzt werden können. Das aktuelle Fischzuchtprojekt in Jeldu ist ein
gutes Beispiel dafür.
BErhanu Negussie auf einer Bank
Nach rund 40 Jahren verabschiedet sich Landesrepräsentant Berhanu Negussie in den Ruhestand. Die Philosophie des gegenseitigen Respekts und der Hilfe auf Augenhöhe wirkt weiter.

Wie würdest du den Geist, die Seele von Menschen für Menschen beschreiben?

Respekt. Gegenseitiger Respekt und Gleichheit. Das hat Karl von Beginn an praktiziert: Ob Minister oder Bauer,
zeige jedem Menschen denselben Respekt.

Berhanu, vielen Dank für das Gespräch. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder in Addis Abeba!

Das Gespräch führte Martina Hollauf vom Menschen für Menschen-Team in Wien.

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